Der Orientalist Karl Süßheim, der jahrzehntelang an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) lehrte, entkam 1941 in letzter Minute der Schoa und emigrierte mit seiner Familie in die Türkei. In den privaten Papieren, die er hinterlassen hat – heute in Besitz seiner Enkelin in den USA –, findet sich ein Foto aus dem Jahr 1937, das die Klasse seiner älteren Tochter Margot im Innenhof der Jüdischen Volksschule in der Herzog-Rudolf-Straße in München zeigt. In seiner ihm eigenen Sorgfalt hat der verfolgte Professor auf der Rückseite des Fotos die Namen aller Kinder notiert: der Ausgangspunkt für eine Spurensuche nach deren Schicksalen.
An der LMU erforscht Kristina Milz mit Julia Schneidawind vom Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur seit Herbst 2023 gemeinsam mit Studierenden die Schicksale dieser Kinder: anhand von Online-Datenbanken und Forschungsliteratur, aber auch mit archivalischen Quellen. Wie funktioniert biografische Forschung? Was lässt sich über einen Menschen herausfinden, von dem man zunächst allein den Namen kennt? Das Beispiel Margot Suesheims, die ihren Namen in ihrer Wahlheimat nach dem Zweiten Weltkrieg amerikanisierte, zeigt, dass sich die erstaunlichsten Lebensgeschichten hinter den einzelnen Namen verbergen können, die oftmals, aber nicht immer in die grausame Ermordung durch die Nationalsozialisten führten: Aus den Kindern auf dem Foto wurden Professoren, Romanautorinnen, Botschafter. Doch nicht alle überlebten die nationalsozialistische Judenverfolgung. Im Wintersemester 2024 erkundeten die Dozentinnen in einer zweiten Lehrveranstaltung die Lebensgeschichten derjenigen Kinder, die im November 1941 im Zuge der ersten Massendeportation aus München im litauischen Kaunas ermordet wurden.
Aus dem Recherche-Projekt werden eine Ausstellung und eine Publikation hervorgehen. Das Buch wird im Verlag C.H. Beck, voraussichtlich im Herbst 2026, erscheinen.
Erste Einblicke in die Ergebnisse wurden im Rahmen eines Festakts anlässlich des 100. Gründungsjubiläums der Jüdischen Volksschule am 16. Mai 2024 im Jüdischen Gemeindezentrum in München gewährt. Hier geht es zur Video-Aufzeichnung der Veranstaltung:
Am selben Tag erschien in der Wochenzeitung DIE ZEIT ein längeres Stück von Christian Staas über das Projekt – inklusive vier Porträts, die die so verschiedenen Schicksale der Kinder auf dem Foto beispielhaft aufzeigen.
Die LMU berichtete im Münchner UniMagazin ebenfalls über das Projekt und hat hierzu Studierende, die an der Übung teilgenommen haben, befragt.
In einer bewegenden Rede hat Andrew Nussbaum, der Sohn von Paul Nußbaum – einer der Überlebenden der Klasse – zu Jom Kippur das Projekt in seiner Heimatsynagoge vorgestellt und dazu aufgerufen, die persönlichen Dokumente von Großeltern und Eltern zu bewahren. Die Congregants Hour Address „My Father’s Class. Who Survived“ wurde aufgezeichnet und ist auf dem YouTube-Kanal des Temple Isaiah abrufbar.
Zum 83. Jahrestag der Ermordung der Kinder in Kaunas erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Gastbeitrag von Kristina Milz und Julia Schneidawind. Über die Exkursion nach Litauen im November 2024 berichtete die Süddeutsche Zeitung mehrfach: Katharina Haase schrieb über die Gedenkveranstaltung am Todestag der Kinder und widmete sich in einem längeren Stück der Spurensuche der Studierenden vor Ort.
The class photo: A search for traces of the fate of Jewish schoolchildren
Karl Süßheim, the decades-long orientalist at Munich’s Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) escaped the Shoah at the last minute in 1941 and emigrated to Turkey with his family. In his private papers – now in the possession of his granddaughter in the USA – there is a photo from 1937 showing his older daughter Margot’s class in the courtyard of the Jewish elementary school (“Volksschule”) in Herzog-Rudolf-Straße in Munich. The persecuted professor wrote down the names of all the children on the back of the photo with his usual care. This provides a starting point for the search for traces of their fates.
In a seminar at LMU, Kristina Milz (Leibniz Institute for Contemporary History/Bavarian Academy of Sciences and Humanities), Julia Schneidawind (LMU) and students are currently researching the fates of these children using online databases and research literature, but also archival sources. How does biographical research work? What can we find out about a person when initially we only have a name? The example of Margot Suesheim, who Americanized her name in her adopted country after the Second World War shows that the most astonishing life stories can be hidden behind the individual names. Often, but not always, these biographies ended in gruesome murder at the hands of the Nazis. The research project will result in an exhibition and publication.
► Article „What became of them? Children of the Jewish School in Munich“
In a moving speech on Yom Kippur, Andrew Nussbaum, the son of Paul Nussbaum – one of the survivors of the class – presented the project in his home synagogue and called for the personal documents of grandparents and parents to be preserved. The Congregants Hour Address “My Father’s Class. Who Survived” was recorded and is available on Temple Isaiah’s YouTube channel: