Kristina Milz

KRISTINA MILZ IST ZEITHISTORIKERIN, BIOGRAFIN UND FREIBERUFLICHE AUTORIN

Heimat

DIE ZEIT, 6.7.2023

WEST-ÖSTLICHER WIDERSTAND

Vor 80 Jahren wurde Kurt Huber hingerichtet, der einzige Professor im Widerstandskreis der Weißen Rose. In Deutschland steht das Andenken an ihn im Schatten der Geschwister Scholl. Dank eines seiner Studenten ist Huber heute dennoch eine prominente Figur – in Südkorea.

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EIN POLITIKER UND SEINE PARTEI

MAX SÜßHEIM (1876–1933)

„Ich gehe einstweilen hinaus, damit ich das blöde Gesicht nicht mehr anschauen muss.“ Diesen Satz schleuderte ein Nationalsozialist dem SPD-Politiker Max Süßheim 1925 im Nürnberger Stadtrat entgegen – Zustände in einer jungen Demokratie, die noch ein paar Jahre zuvor kaum einer für möglich gehalten hätte. Süßheim selbst allerdings warnte schon lange vor einer entfesselten Rechten. „Noch sind große Aufgaben zu lösen“, hatte er seine Genossen 1920 gemahnt: „Deutlich machen sich die Anzeichen bemerkbar, daß unter dem Deckmantel ‚nationaler Gesinnung‘ […] die Kräfte der Reaktion gesammelt werden.“ In weiten Kreisen seiner Partei werde die Gefahr von rechts unterschätzt. Max Süßheim ist heute den wenigsten bekannt. Dabei war der weitsichtige „Sozi in Lederhose“, nicht nur der – bis heute – letzte jüdische Landtagsabgeordnete Bayerns, sondern auch ein wichtiger Kopf der Revolution von 1918/19 und ein omnipräsentes Hassobjekt der frühen Nationalsozialisten…

IN: EINSICHTEN+PERSPEKTIVEN 2/2023

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EIN RECHTER PUBLIZIST UND DIE SCHAM EINER GESELLSCHAFT

PAUL NIKOLAUS COSSMANN (1869–1942)

„Es ist die abscheulichste Heuchelei, den Krieg mit dem Christentum zusammenzubringen“, hat Paul Nikolaus Cossmann im September 1918 unter dem Schlagwort „Das Reich Gottes“ geschrieben. Der Münchner Publizist war ein strenggläubiger katholischer Konvertit. Ist es statthaft, ihn in einer Reihe jüdischer Biografien zu porträtieren? Reproduziert man damit nicht rassistische Zuschreibungen, die auch vor Konvertiten keinen Halt machten? Bei anderen Figuren wäre sicher Einhalt geboten, Cossmann aber, ein rechtskonservativer Blattmacher, hat genau diesem verhängnisvollen Gedankengut erheblichen Vorschub geleistet. Auch sein oben zitierter Text, den er kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs verfasste, war alles andere als ein Friedensappell

IN: EINSICHTEN+PERSPEKTIVEN 1/2023

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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, 5.12.2022

EIN OFFIZIER UND PAZIFIST

Der heute vergessene bayerische Major Franz Carl Endres war 1922 eines der Gründungsmitglieder der Deutschen Liga für Menschenrechte. Seine Lebensgeschichte ist erstaunlich: Er galt als soldatisches Ausnahmetalent und Held von Gallipoli, dann wurde er zum Menschenrechtsaktivisten.

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EINE SCHRIFTSTELLERIN UND DAS PATRIARCHAT

PAULA BUBER (1877–1958)

„Da steht ein kleines Städtchen vor mir auf, reinliche Häuser, helle Fenster, bunte Sommergärtchen, viel Licht und Sauberkeit, ein bescheidener Ueberfluss und viel Liebe überall und an jeglichem Ding […]. [Ü]ber all dem der Reiz der Absonderlichkeit, Worte und Bräuche fremd und wunderlich, der dunkle Hintergrund einer schmerzhaft bewegten Vergangenheit, Geschichten von schaurigem Verdacht und trostloser Flucht, Geschichten von Heldenthum und unendlicher Duldung.“ Eine Anziehungskraft, die sich aus vertrauter Behaglichkeit und faszinierender Fremde zugleich speist: So blickte die 24 jährige Münchnerin Paula Winkler, die 1877 im Haus eines katholischen Oberbaurats geboren worden war, auf das jüdische Leben in Bayern. Ihre Mutter, schrieb sie, habe „in der Nähe einer kleinen Judenansiedelung gelebt“ und ihr dieses Bild „mit freundlichen Worten in liebender Art gemalt“ – es „stach gar sehr von dem ab, was ich später vom Leben der Juden unter uns hörte und sah“…

IN: EINSICHTEN+PERSPEKTIVEN 3/2022

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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, 11.4.2022

OPERATION RACHE

Vor hundert Jahren erschossen in Berlin zwei junge Armenier die Kriegsverbrecher Cemal Azmi und Bahattin Schakir. Sie wollten den Genozid an ihrem Volk rächen, den die türkische Regierung während des Weltkriegs verantwortet hatte. Das Attentat öffnet den Blick auf eine überaus vieldeutige deutsch-türkische Geschichte.

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EIN VERFOLGTER WISSENSCHAFTLER UND SEINE UNIVERSITÄT

KARL SÜßHEIM (1878–1947)

„Als Kind merkt man so etwas wie Vermeidung normalerweise nicht. […] Als ich aufwuchs, hörte ich von meiner Mutter nur wenige Geschichten über ihre Familie. […] Sie sagte Dinge wie: ‚Ich weiß wirklich nicht viel, ich kann mich nicht erinnern‘. Und sie hat nicht ein einziges Mal gesagt, dass ihr Vater Jude war. […] In den frühen Siebzigern, als wir in den Ferien nach Istanbul gefahren sind, als ich 12 war, […] [haben] wir sein Grab […] besucht. Da war ein großer Davidstern auf dem Grabstein. Ich war verwirrt! Ich habe auf den Stern gezeigt und gesagt: ‚Hey Mom!‘ Sie hat nur in eine andere Richtung geschaut. Das war das Ende der Diskussion.“ Die eindringlichen Sätze entstammen einer Rede, die am 27. Juni 2022 im Literaturhaus München gehalten wurde. Die Sprecherin war Lisa R. D’Angelo, Enkelin des in der NS-Zeit in die Türkei emigrierten bayerisch-jüdischen Orientalisten Karl Süßheim, der heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist

IN: EINSICHTEN+PERSPEKTIVEN 2/2022

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DER TAG, AN DEM DIE KRAMPERL KOMMEN

„ES GEHT DARUM, WER DIE SCHWERSTEN GLOCKEN HAT.“

„Eigentlich kann dir hier nichts Schlimmeres passieren, als kurz nach Nikolaus Geburtstag zu haben – dann musst du fast ein Jahr länger warten als deine Freunde“, sagt einer, der es selbst erlebt hat. In der Ramsau gibt es ein Datum, das die Schwelle zwischen Kind und Mann markiert: der 6. Dezember, an dem die „Bass“ regiert und die gewohnten Regeln außer Kraft gesetzt scheinen. An diesem Tag nämlich sind die „Kramperl“ unterwegs – volljährige Burschen, die mit dem Nikolaus durchs Dorf ziehen, Ruten schwingen und ordentlich Lärm machen. Ängstliche Kinder werfen sich in die Arme ihrer Väter, Halbwüchsige sind als mutige „Späher“ unterwegs und junge Frauen verstecken sich so, dass man sie garantiert findet. Eine Reportage über einen vielkritisierten Brauch im Berchtesgadener Land – denn die Schlagzeilen über Alkoholmissbrauch, Gewalt und Übergriffe gehören längst zum Ritual dazu.

IN: WIR. HEIMAT – LAND – JUGENDKULTUR, OKTOBER 2020

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EIN FESTIVAL FÜR FREUNDE ODER: SCHÖNER LEBEN OHNE NAZIS

„DER JUGENDLICHE AN SICH, DER INTERESSIERTE MICH SCHON MAL GAR NICHT.“

Auf dem Hof Dahnsdorf in der tiefsten brandenburgischen Provinz findet jeden Sommer ein Kunst-Festival statt. Die einen sehen es als willkommene Gelegenheit, die schmerzhafte Sehnsucht nach Kultur zu befriedigen, für andere ist es wohl bloß eine linksgrünversiffte Insel im rechtsdominierten öffentlichen Raum. Schwierig ist es, die Meinung der Dorfjugend dazu einzuholen – kein Teenager besucht das Event, obwohl die Veranstaltungen vor allem junge Leute ansprechen wollen. Ein Text auf der Suche nach den Gründen.

IN: WIR. HEIMAT – LAND – JUGENDKULTUR, OKTOBER 2020

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NACHDENKEN ÜBER VERGESSENE SPIELREGELN

„WEM G’HERST NA DU?“

Ich hatte mit vielem gerechnet, aber am wenigsten mit Neid. Die Idee war, in mein oberbayerisches Heimatdorf zu fahren, um darüber zu schreiben, wie es ist, dort jung zu sein, wie schwierig es ist, um genau zu sein, aber ausgerechnet dieses Gefühl hat mich erwischt.

Die Gemeinde, in der ich aufgewachsen bin, hat heute knapp 1.500 Einwohnerinnen und Einwohner, in meinem Geburtsjahr war es noch ein Drittel weniger. Ich weiß noch, dass ein Junge, der mit meiner Schwester in die Klasse ging, der tausendste Bürger war; das hat man immer dazugesagt, wenn es um ihn ging…

IN: WIR. HEIMAT – LAND – JUGENDKULTUR, OKTOBER 2020

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EIN FEATURE ÜBER HOMOSEXUALITÄT UND RELIGION

WILLKOMMEN IN SODOM UND GOMORRHA

Birkan Bulut* liebt Männer. Als er es merkte, hätte er gerne geweint. Doch weinen war verboten. Genauso wie zeichnen, malen und Gedichte schreiben. „Ich hasse meinen Vater. Er würde mich umbringen, wenn er es wüsste“, sagt der 16-jährige Deutschtürke mit einem Blick, der so gar nicht zu seinem Lockenkopf und den großen nussbraunen Knopfaugen passen mag. Zu seinen Narben an Armen, Beinen und im Intimbereich schon eher. Birkan fügt sich selbst Schmerzen zu, immer wieder. Aus Aggression, die er nicht kanalisieren kann. Aus Ekel vor dem männlichen Geschlecht. Irgendwann wollte er es sich sogar abschneiden: „Ich stand mit einem großen Küchenmesser in meinem Zimmer und habe die Klinge schon angesetzt.“

IN: ER. GESCHICHTEN ÜBER MÄNNER, SEPTEMBER 2013

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MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE IN MÜNCHEN

„ALS OB WIR TIERE WÄREN“

Auf seiner Flucht nach München wurde er verprügelt und eingesperrt. Gerade 16 Jahre war der Afghane Ahmad A. damals alt. Heute hat er ein neues Leben in Deutschland, doch seine Vergangenheit beschäftigt ihn noch immer.

Es ist stockdunkel. Ahmad A. kann seine eigene Hand vor dem Gesicht nicht erkennen. Doch er hat keine Zeit, darüber nachzudenken, wohin er tritt. Zusammen mit seinem älteren Bruder, Hand in Hand, hastet er über einen schmalen Pfad an der iranisch-türkischen Grenze, so schmal, dass eigentlich nur eine Person darauf Platz findet. Neben ihnen eine tiefe Schlucht. Einige Flüchtlinge sind bereits hinabgestürzt. Ahmad hört die Schreie, wenn sie in die Tiefe fallen…

IN: SÜDDEUTSCHE.DE, 5.10.2011

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KOMMENTAR

MEHR GEDULD MIT DEN MIGRANTEN

Gestatten, ein Gedankenspiel: Hunderte bayerische Milchbauern werden von der Türkei als Arbeiter mit Zeitverträgen angeworben; in Deutschland gibt es für sie keine Perspektive. Sie wandern aus – immer im Hinterkopf, bald wieder in die Heimat zurück zu kehren. Sie bleiben meist unter sich: Die Gewohnheiten sind vertraut, die türkische Kultur fremd. Sprach- und Integrationsförderung ist für die Politik dort kein Thema. Dann aber stellen Arbeitgeber und Milchbauern fest, es sei besser in der Türkei zu bleiben. Zugegeben, das Beispiel ist kaum vorstellbar. Dennoch ist die beschriebene Situation mit der vieler Gastarbeiter zu vergleichen, die vor Jahrzehnten nach Deutschland kamen und blieben

IN: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 13.9.2010

MIGRANTEN IN FREISING

NACHHOLBEDARF BEI DER SPRACHFÖRDERUNG

Zuwanderer integrieren sich im Landkreis weitgehend ohne Probleme – nur ihre Deutschkenntnisse sind immer noch zu gering

In zehn Jahren wird fast jeder vierte Bürger in Bayern einen Migrationshintergrund haben – das Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung schätzt den Anteil der Migranten an der Bevölkerung Bayerns im Jahr 2020 auf rund 23 Prozent. Die Sicherheitspolitik müsse darauf reagieren, heißt es dazu in einer Stellungnahme des bayerischen Innenministeriums. Die wirtschaftliche Situation und der Grad der Integration von Migranten habe schließlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Kriminalitätsentwicklung…

IN: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 13.9.2010

REPORTAGE ZUM PFLEGEDIENST

MITGEFÜHL IM MINUTENTAKT

Angelika Berninger betreut alte und kranke Menschen zuhause: Traurig ist das nur manchmal, oft vergießt sie Lachtränen

Das Gesicht der alten Frau ist faltig, die Augen hat sie halb geschlossen. Dünn ist sie und schwer krank. Ganz nah geht Angelika Berninger an sie heran, tätschelt und streichelt ihre Wangen. Die Blicke der alten Frau irren ziellos umher. Dass die Patientin versteht, was gerade um sie herum geschieht, lässt sich nur erahnen. Tröstende Worte flüstert Angelika in ihr Ohr – aber von der 97-Jährigen kommt keine Reaktion. „Sie alle fühlen, dass man für sie da ist. Den Glauben daran lasse ich mir nicht nehmen“, sagt die Pflegerin beinahe trotzig. Sie ist davon überzeugt, dass ihre Hilfe bei den alten Menschen ankommt. Auch wenn der Verstand nicht mehr immer funktioniere, die Gefühle seien noch wach...

IN: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 24.8.2010

© 2024 Kristina Milz

Thema von Anders Norén