
EIN VERFOLGTER WISSENSCHAFTLER UND SEINE UNIVERSITÄT
KARL SÜSSHEIM (1878–1947)
„Als Kind merkt man so etwas wie Vermeidung normalerweise nicht. […] Als ich aufwuchs, hörte ich von meiner Mutter nur wenige Geschichten über ihre Familie. […] Sie sagte Dinge wie: ‚Ich weiß wirklich nicht viel, ich kann mich nicht erinnern‘. Und sie hat nicht ein einziges Mal gesagt, dass ihr Vater Jude war. […] In den frühen Siebzigern, als wir in den Ferien nach Istanbul gefahren sind, als ich 12 war, […] [haben] wir sein Grab […] besucht. Da war ein großer Davidstern auf dem Grabstein. Ich war verwirrt! Ich habe auf den Stern gezeigt und gesagt: ‚Hey Mom!‘ Sie hat nur in eine andere Richtung geschaut. Das war das Ende der Diskussion.“ Die eindringlichen Sätze entstammen einer Rede, die am 27. Juni 2022 im Literaturhaus München gehalten wurde. Die Sprecherin war Lisa R. D’Angelo, Enkelin des in der NS-Zeit in die Türkei emigrierten bayerisch-jüdischen Orientalisten Karl Süßheim, der heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist…
IN: EINSICHTEN+PERSPEKTIVEN 2/2022
Mehr zur Reihe „Bayerns vergessene Kinder. Jüdische Biografien unter der damnatio memoriae„

DER TAG, AN DEM DIE KRAMPERL KOMMEN
„ES GEHT DARUM, WER DIE SCHWERSTEN GLOCKEN HAT.“
„Eigentlich kann dir hier nichts Schlimmeres passieren, als kurz nach Nikolaus Geburtstag zu haben – dann musst du fast ein Jahr länger warten als deine Freunde“, sagt einer, der es selbst erlebt hat. In der Ramsau gibt es ein Datum, das die Schwelle zwischen Kind und Mann markiert: der 6. Dezember, an dem die „Bass“ regiert und die gewohnten Regeln außer Kraft gesetzt scheinen. An diesem Tag nämlich sind die „Kramperl“ unterwegs – volljährige Burschen, die mit dem Nikolaus durchs Dorf ziehen, Ruten schwingen und ordentlich Lärm machen. Ängstliche Kinder werfen sich in die Arme ihrer Väter, Halbwüchsige sind als mutige „Späher“ unterwegs und junge Frauen verstecken sich so, dass man sie garantiert findet. Eine Reportage über einen vielkritisierten Brauch im Berchtesgadener Land – denn die Schlagzeilen über Alkoholmissbrauch, Gewalt und Übergriffe gehören längst zum Ritual dazu.
IN: WIR. HEIMAT – LAND – JUGENDKULTUR, OKTOBER 2020

EIN FESTIVAL FÜR FREUNDE ODER: SCHÖNER LEBEN OHNE NAZIS
„DER JUGENDLICHE AN SICH, DER INTERESSIERTE MICH SCHON MAL GAR NICHT.“
Auf dem Hof Dahnsdorf in der tiefsten brandenburgischen Provinz findet jeden Sommer ein Kunst-Festival statt. Die einen sehen es als willkommene Gelegenheit, die schmerzhafte Sehnsucht nach Kultur zu befriedigen, für andere ist es wohl bloß eine linksgrünversiffte Insel im rechtsdominierten öffentlichen Raum. Schwierig ist es, die Meinung der Dorfjugend dazu einzuholen – kein Teenager besucht das Event, obwohl die Veranstaltungen vor allem junge Leute ansprechen wollen. Ein Text auf der Suche nach den Gründen.
IN: WIR. HEIMAT – LAND – JUGENDKULTUR, OKTOBER 2020

NACHDENKEN ÜBER VERGESSENE SPIELREGELN
„WEM G’HERST NA DU?“
Ich hatte mit vielem gerechnet, aber am wenigsten mit Neid. Die Idee war, in mein oberbayerisches Heimatdorf zu fahren, um darüber zu schreiben, wie es ist, dort jung zu sein, wie schwierig es ist, um genau zu sein, aber ausgerechnet dieses Gefühl hat mich erwischt.
IN: WIR. HEIMAT – LAND – JUGENDKULTUR, OKTOBER 2020

EIN FEATURE ÜBER HOMOSEXUALITÄT UND RELIGION
WILLKOMMEN IN SODOM UND GOMORRHA
Birkan Bulut* liebt Männer. Als er es merkte, hätte er gerne geweint. Doch weinen war verboten. Genauso wie zeichnen, malen und Gedichte schreiben. „Ich hasse meinen Vater. Er würde mich umbringen, wenn er es wüsste“, sagt der 16-jährige Deutschtürke mit einem Blick, der so gar nicht zu seinem Lockenkopf und den großen nussbraunen Knopfaugen passen mag. Zu seinen Narben an Armen, Beinen und im Intimbereich schon eher. Birkan fügt sich selbst Schmerzen zu, immer wieder. Aus Aggression, die er nicht kanalisieren kann. Aus Ekel vor dem männlichen Geschlecht. Irgendwann wollte er es sich sogar abschneiden: „Ich stand mit einem großen Küchenmesser in meinem Zimmer und habe die Klinge schon angesetzt.“
IN: ER. GESCHICHTEN ÜBER MÄNNER, SEPTEMBER 2013

MINDERJÄHRIGE FLÜCHTLINGE IN MÜNCHEN
„ALS OB WIR TIERE WÄREN“
Auf seiner Flucht nach München wurde er verprügelt und eingesperrt. Gerade 16 Jahre war der Afghane Ahmad A. damals alt. Heute hat er ein neues Leben in Deutschland, doch seine Vergangenheit beschäftigt ihn noch immer.
IN: SÜDDEUTSCHE.DE, 5.10.2011

KOMMENTAR
MEHR GEDULD MIT DEN MIGRANTEN
Gestatten, ein Gedankenspiel: Hunderte bayerische Milchbauern werden von der Türkei als Arbeiter mit Zeitverträgen angeworben; in Deutschland gibt es für sie keine Perspektive. Sie wandern aus – immer im Hinterkopf, bald wieder in die Heimat zurück zu kehren. Sie bleiben meist unter sich: Die Gewohnheiten sind vertraut, die türkische Kultur fremd. Sprach- und Integrationsförderung ist für die Politik dort kein Thema. Dann aber stellen Arbeitgeber und Milchbauern fest, es sei besser in der Türkei zu bleiben. Zugegeben, das Beispiel ist kaum vorstellbar. Dennoch ist die beschriebene Situation mit der vieler Gastarbeiter zu vergleichen, die vor Jahrzehnten nach Deutschland kamen und blieben…
IN: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 13.9.2010

MIGRANTEN IN FREISING
NACHHOLBEDARF BEI DER SPRACHFÖRDERUNG
Zuwanderer integrieren sich im Landkreis weitgehend ohne Probleme – nur ihre Deutschkenntnisse sind immer noch zu gering
In zehn Jahren wird fast jeder vierte Bürger in Bayern einen Migrationshintergrund haben – das Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung schätzt den Anteil der Migranten an der Bevölkerung Bayerns im Jahr 2020 auf rund 23 Prozent. Die Sicherheitspolitik müsse darauf reagieren, heißt es dazu in einer Stellungnahme des bayerischen Innenministeriums. Die wirtschaftliche Situation und der Grad der Integration von Migranten habe schließlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Kriminalitätsentwicklung…
IN: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 13.9.2010

REPORTAGE ZUM PFLEGEDIENST
MITGEFÜHL IM MINUTENTAKT
Angelika Berninger betreut alte und kranke Menschen zuhause: Traurig ist das nur manchmal, oft vergießt sie Lachtränen
Das Gesicht der alten Frau ist faltig, die Augen hat sie halb geschlossen. Dünn ist sie und schwer krank. Ganz nah geht Angelika Berninger an sie heran, tätschelt und streichelt ihre Wangen. Die Blicke der alten Frau irren ziellos umher. Dass die Patientin versteht, was gerade um sie herum geschieht, lässt sich nur erahnen. Tröstende Worte flüstert Angelika in ihr Ohr – aber von der 97-Jährigen kommt keine Reaktion. „Sie alle fühlen, dass man für sie da ist. Den Glauben daran lasse ich mir nicht nehmen“, sagt die Pflegerin beinahe trotzig. Sie ist davon überzeugt, dass ihre Hilfe bei den alten Menschen ankommt. Auch wenn der Verstand nicht mehr immer funktioniere, die Gefühle seien noch wach.
IN: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 24.8.2010