Kristina Milz

KRISTINA MILZ IST ZEITHISTORIKERIN, BIOGRAFIN UND FREIBERUFLICHE AUTORIN

Bayerns vergessene Kinder: Jüdische Biografien unter der damnatio memoriae

„Ein Sohn des Volkes wollt‘ er sein“: Der letzte jüdische Landtagsabgeordnete Bayerns wünschte sich für seine Beerdigung ein wehmütiges Arbeiterlied. Der SPD-Politiker Max Süßheim war nicht nur ein wichtiger Vordenker der Demokratie, sondern gewissermaßen auch ein Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, lange bevor dieser an die Macht gelangte. Dennoch könnte man den Eindruck haben, er hätte nie existiert – genauso wenig wie sein Bruder, der Orientalist Karl Süßheim, der als Professor über Jahrzehnte hinweg die Türkei-Studien an der LMU geprägt hat und 1941 als einer der letzten Münchner Juden der Shoah entkam. Die Süßheim-Brüder sind mit diesem Schicksal nicht allein: Immer wieder stößt die Wissenschaft auf faszinierende bayerisch-jüdische Biografien von Frauen und Männern, die aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden sind, obwohl ihre Rolle in der Geschichte eine besondere war.

Die Umstände dieser Verdrängung aus der kulturellen Erinnerung sind so vielfältig und mehrdeutig wie die Figuren selbst: Geschlechterspezifische Kategorien konnten dabei genauso eine Rolle spielen wie tiefsitzender Antisemitismus und die vielschichtigen Befindlichkeiten der bayerischen Nachkriegsgesellschaft. Eines aber hatten sie gemeinsam: Diese Protagonisten der Geschichte sind nicht zufällig vergessen worden. Die Reihe „Bayerns vergessene Kinder“ im Magazin „Einsichten+Perspektiven“ sowie als Podcast der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit porträtiert jüdische Biografien, die einer damnatio memoriae zum Opfer gefallen sind – und ihrer Wiederentdeckung harren.

EIN POLITIKER UND SEINE PARTEI

MAX SÜßHEIM (1876–1933)

„Ich gehe einstweilen hinaus, damit ich das blöde Gesicht nicht mehr anschauen muss.“ Diesen Satz schleuderte ein Nationalsozialist dem SPD-Politiker Max Süßheim 1925 im Nürnberger Stadtrat entgegen – Zustände in einer jungen Demokratie, die noch ein paar Jahre zuvor kaum einer für möglich gehalten hätte. Süßheim selbst allerdings warnte schon lange vor einer entfesselten Rechten. „Noch sind große Aufgaben zu lösen“, hatte er seine Genossen 1920 gemahnt: „Deutlich machen sich die Anzeichen bemerkbar, daß unter dem Deckmantel ‚nationaler Gesinnung‘ […] die Kräfte der Reaktion gesammelt werden.“ In weiten Kreisen seiner Partei werde die Gefahr von rechts unterschätzt. Max Süßheim ist heute den wenigsten bekannt. Dabei war der weitsichtige „Sozi in Lederhose“, nicht nur der – bis heute – letzte jüdische Landtagsabgeordnete Bayerns, sondern auch ein wichtiger Kopf der Revolution von 1918/19 und ein omnipräsentes Hassobjekt der frühen Nationalsozialisten…

IN: EINSICHTEN+PERSPEKTIVEN 2/2023

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EIN RECHTER PUBLIZIST UND DIE SCHAM EINER GESELLSCHAFT

PAUL NIKOLAUS COSSMANN (1869–1942)

„Es ist die abscheulichste Heuchelei, den Krieg mit dem Christentum zusammenzubringen“, hat Paul Nikolaus Cossmann im September 1918 unter dem Schlagwort „Das Reich Gottes“ geschrieben. Der Münchner Publizist war ein strenggläubiger katholischer Konvertit. Ist es statthaft, ihn in einer Reihe jüdischer Biografien zu porträtieren? Reproduziert man damit nicht rassistische Zuschreibungen, die auch vor Konvertiten keinen Halt machten? Bei anderen Figuren wäre sicher Einhalt geboten, Cossmann aber, ein rechtskonservativer Blattmacher, hat genau diesem verhängnisvollen Gedankengut erheblichen Vorschub geleistet. Auch sein oben zitierter Text, den er kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs verfasste, war alles andere als ein Friedensappell

IN: EINSICHTEN+PERSPEKTIVEN 1/2023

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EINE SCHRIFTSTELLERIN UND DAS PATRIARCHAT

PAULA BUBER (1877–1958)

„Da steht ein kleines Städtchen vor mir auf, reinliche Häuser, helle Fenster, bunte Sommergärtchen, viel Licht und Sauberkeit, ein bescheidener Ueberfluss und viel Liebe überall und an jeglichem Ding […]. [Ü]ber all dem der Reiz der Absonderlichkeit, Worte und Bräuche fremd und wunderlich, der dunkle Hintergrund einer schmerzhaft bewegten Vergangenheit, Geschichten von schaurigem Verdacht und trostloser Flucht, Geschichten von Heldenthum und unendlicher Duldung.“ Eine Anziehungskraft, die sich aus vertrauter Behaglichkeit und faszinierender Fremde zugleich speist: So blickte die 24 jährige Münchnerin Paula Winkler, die 1877 im Haus eines katholischen Oberbaurats geboren worden war, auf das jüdische Leben in Bayern. Ihre Mutter, schrieb sie, habe „in der Nähe einer kleinen Judenansiedelung gelebt“ und ihr dieses Bild „mit freundlichen Worten in liebender Art gemalt“ – es „stach gar sehr von dem ab, was ich später vom Leben der Juden unter uns hörte und sah“…

IN: EINSICHTEN+PERSPEKTIVEN 3/2022

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EIN VERFOLGTER WISSENSCHAFTLER UND SEINE UNIVERSITÄT

KARL SÜßHEIM (1878–1947)

„Als Kind merkt man so etwas wie Vermeidung normalerweise nicht. […] Als ich aufwuchs, hörte ich von meiner Mutter nur wenige Geschichten über ihre Familie. […] Sie sagte Dinge wie: ‚Ich weiß wirklich nicht viel, ich kann mich nicht erinnern‘. Und sie hat nicht ein einziges Mal gesagt, dass ihr Vater Jude war. […] In den frühen Siebzigern, als wir in den Ferien nach Istanbul gefahren sind, als ich 12 war, […] [haben] wir sein Grab […] besucht. Da war ein großer Davidstern auf dem Grabstein. Ich war verwirrt! Ich habe auf den Stern gezeigt und gesagt: ‚Hey Mom!‘ Sie hat nur in eine andere Richtung geschaut. Das war das Ende der Diskussion.“ Die eindringlichen Sätze entstammen einer Rede, die am 27. Juni 2022 im Literaturhaus München gehalten wurde. Die Sprecherin war Lisa R. D’Angelo, Enkelin des in der NS-Zeit in die Türkei emigrierten bayerisch-jüdischen Orientalisten Karl Süßheim, der heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist

IN: EINSICHTEN+PERSPEKTIVEN 2/2022

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Titelfoto: Margarete Elisabeth Dispeker (1906–1999), genannt „Grete“, um das Jahr 1932 auf einem bestiegenen Berggipfel in den Bayerischen Alpen. Später wurde sie als Grete Weil als Schriftstellerin, Übersetzerin und Fotografin bekannt, als Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus wird sie heute jedoch kaum mehr erinnert. (Wikimedia)

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