Kristina Milz

KRISTINA MILZ IST ZEITHISTORIKERIN, BIOGRAFIN UND FREIBERUFLICHE AUTORIN

„Todesursache: Flucht“ – eine unvollständige Liste

In den vergangenen dreißig Jahren sind mehr als 51.300 Menschen auf der Flucht nach und in Europa ums Leben gekommen. Zum Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2018 hat Kristina Milz zusammen mit der Berliner Schriftstellerin Anja Tuckermann erstmals eine Liste der Toten (die belegten Fälle) in Buchform herausgegeben. Zum Weltflüchtlingstag im Juni 2023 ist eine Neuausgabe erschienen. Die Herausgeberinnen möchten mit dem Buchprojekt die Menschen dem Vergessen entreißen, um das Ausmaß dieser Tragödie besser zu fassen zu bekommen – und der Debatte um Flucht und Tod wieder ein menschliches Antlitz geben.

Zusammengestellt wird die Liste von der Organisation UNITED for Intercultural Action. Die meisten Toten sind hier ohne Namen verzeichnet; Überlebende haben den Herausgeberinnen Namen genannt, die eingefügt werden. Die mehrere hundert Buchseiten umfassende Liste ist um Porträts von Gestorbenen, Berichten von Überlebenden und Beiträgen von prominenten Gastautorinnen und -autoren wie zum Beispiel Heribert Prantl, Stephan Lessenich und Heinrich Bedford-Strohm ergänzt.

Das Buch wurde in einer Startauflage von 10.000 Exemplaren gedruckt und am 10. Dezember 2018 von Verbänden, Initiativen und Projekten, aber auch im Handel kostenlos verteilt, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Finanziert wurde diese Aktion mit einer erfolgreichen Crowdfunding-Kampagne, die auch die Initiative zu zahlreichen Andachten und Lesungen gab. Das Buchprojekt mit einem eigenen Blog, der zahlreiche Stimmen von Unterstützerinnen und Unterstützern versammelt, fand reges Medienecho. Im Frühjahr 2019 folgte bereits eine erste aktualisierte Neuauflage, die neue Ausgabe 2023 wurde ganz wesentlich erweitert.

Das Buch ist ein Plädoyer gegen die Politik täglicher Gleichgültigkeit. Es berührt und macht zornig – Seite für Seite.

DIETMAR SÜẞ: DIE MAHNUNG DER TOTEN (REZENSION „DAS POLITISCHE BUCH“), SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 10.12.2018

In einem zum 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erschienenen Buch dokumentieren die Historikerin Kristina Milz und die Autorin Anja Tuckermann die menschengemachten „Schicksale“ von 35.597 Opfern des europäischen Grenz- und Migrations-, Aufnahme- und Abweisungsregimes. Ein Vierteljahrhundert institutionalisierter Menschenverachtung, auf Hunderten von Seiten aufgelistet – eine kaum erträgliche Lektüre.

STEPHAN LESSENICH: FRAGLOS SCHREITEN WIR VORAN, TAZ, 23.12.2018

KRISTINA MILZ UND ANJA TUCKERMANN (HRSG.)

TODESURSACHE: FLUCHT. EINE UNVOLLSTÄNDIGE LISTE

In den vergangenen dreißig Jahren sind mehr als 51.300 Menschen auf der Flucht nach und in Europa ums Leben gekommen. Dieses Buch veröffentlicht die Liste dieser belegten Fälle, dokumentiert von der Organisation UNITED for Intercultural Action. Die meisten Toten sind ohne Namen verzeichnet. Überlebende haben den Herausgeberinnen die Namen ihrer Toten genannt und deren Geschichten erzählt; andere Schicksale haben Kristina Milz und Anja Tuckermann recherchiert. Die Liste wurde so ergänzt um einige Namen und Fotos, Porträts und persönliche Fluchterfahrungen. Dieses Buch will das Ausmaß dieser Tragödie sichtbar machen, denn hinter jeder Zahl steht ein Mensch.

HIRNKOST VERLAG 2023

➔ zur Bestellung

Dieses Buch – eine verstörende Dokumentation menschlichen Leids und einer humanitären Katastrophe – sollte uns dazu zwingen, verstärkt über die Flucht- und Migrationspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten nachzudenken sowie über die vielfältigen Ursachen von Flucht und Migration. Dabei geht es um aktuelle Missstände, essenzielle Zusammenhänge und historische Lasten, die im medialen Alltag und in der herrschenden Politik allzu leicht untergehen.

ROLF GÖSSNER: DIE DUNKLE KEHRSEITE DER WESTLICHEN WERTE, FRANKFURTER RUNDSCHAU, 9.1.2019

Kristina Milz und Anja Tuckermann geben den wichtigsten Titel der Stunde heraus.

JAMAL TUSCHICK: TODESURSACHE: FLUCHT. EINE UNVOLLSTÄNDIGE LISTE (INTERVIEW MIT KRISTINA MILZ), TEXTLAND, 21.9.2018

Kristina Milz realisiert Lesungen aus dem Buch und nimmt an Podiumsdiskussionen teil. Sie war beim Landsberger Ausstellungsprojekt „Kunst hält Wache“, einer Mahnung in Erinnerung an 75 Jahre Frieden in Deutschland beteiligt. Die jüngste Auflage wurde zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni 2023 im Literaturhaus München vorgestellt. An der Veranstaltung beteiligten sich neben den beiden Herausgeberinnen auch Heribert Prantl, einer der Gastautoren der ersten Stunde, sowie im Rahmen einer Lesung die Schauspielerin Sabrina Khalil und der Schauspieler Thomas Lettow.

Kristina Milz und Anja Tuckermann stellten die neue Auflage am 20. Juni 2023 im Literaturhaus München vor. Mit dabei waren auch Thomas Lettow, Sabrina Khalil (links im Bild) und Heribert Prantl (rechts).

Porträts aus dem Buch

PORTRÄT ÜBER SUZAN HAYIDER UND IHRE KINDER

„ES IST DER SCHLIMMSTE FALL MEINES LEBENS“

Der 32-jährige Salah J. hat seinen Sohn nie kennengelernt. Nie durfte er ihm über den schwarzen Haarflaum auf dem kleinen Kopf streichen, nie in seine großen dunklen Augen sehen. Das Baby ist in der Ägäis gestorben, mit ihm seine dreijährige Schwester und seine Mutter. Sie war Salahs Frau, ihr Name war Suzan...

➔ zum Text

PORTRÄT ÜBER MELIKE AKBAŞ

„DIESES MÄDCHEN WAR EIN WUNDER“

Melike Akbaş war ein ganz erstaunliches Kind. Ihre Eltern scherzten immer damit: Sie hätten zwei wundervolle Kinder, ein wundervoll normales und ein wundervoll besonderes. Das besondere, das war Melike. Schon als sie noch ganz klein war, ist es allen aufgefallen. Melike hatte ihren eigenen Kopf, ihre eigenen Überzeugungen...

➔ zum Text

PORTRÄT ÜBER ALIREZA, MOHAMMED UND HAMID

„ICH MUSS ES SEHEN“

„Es ist mir lieber, wenn ich die Unfallbilder sehe, egal ob zertrümmert, keine Knochen mehr, ob Fleisch, Körperteile, Haut oder nur Kleidung. Ich muss es sehen.“ Die Frau, die auf der Polizeiwache in Veles diese Sätze spricht, ist verzweifelt. Seit drei Jahren wird ihr Sohn vermisst. Er verschwand an dem Tag, an dem ein Zug in Nordmazedonien junge Afghanen und Somalier überrollte und 14 Menschen aus dem Leben riss. Alles deutet darauf hin, dass auch ihr Sohn unter den Opfern ist. Die Mutter aber braucht Gewissheit…

➔ zum Text

PORTRÄT ÜBER ALAN, GHALIP UND REHAN KURDI

DIE MENSCHLICHKEIT AN LAND GESPÜLT

Sein Bild ging um die Welt, es ist die Ikone der großen humanitären Katastrophe unseres Jahrhunderts. Menschen haben es auf Mauern gesprayt, als Sandskulptur geformt, den schmalen Schultern in Gemälden Flügelchen verpasst. Das französische Satireblatt Charlie Hebdo hat es in Karikaturen dargestellt, der chinesische Künstler Ai Wei Wei nachgestellt. Über den Hashtag #HumanityWashedAshore – die Menschlichkeit an Land gespült – verbreitete sich das Bild innerhalb weniger Stunden bis in den letzten Winkel der Erde. Alan Kurdi: ein kleiner Körper ohne Leben, dunkelblaue Hose, karminrotes T-Shirt, winzige Turnschuhe; das Gesicht im nassen Sand...

➔ zum Text

PORTRÄT ÜBER MUHAMMAD GULZAR

„ICH WEINE IMMER NOCH“

Die türkisch-griechische Grenze ist 212 Kilometer lang. Sie verläuft entlang des Flusses Evros, der in den vergangenen Jahren wiederholt Schauplatz von Pushbacks war, ein Ort also, an dem Flüchtlinge ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, in die Türkei zurückgedrängt werden. Wiederholt wurde über Tote berichtet. Inzwischen gilt das Gebiet auf griechischer Seite als militärische Sperrzone – was hier passiert, passiert in einer Blackbox, zu der Medien und NGOs keinen Zugang haben. Ende Februar 2020 hatte die Türkei ausgerechnet hier plötzlich eine sichere Route nach Europa versprochen: Über WhatsApp verbreitete sich die Nachricht der Grenzöffnung wie ein Lauffeuer…

➔ zum Text

PORTRÄT ÜBER MADINA HUSSINY

„WENN ICH GANZ EUROPA BESITZEN WÜRDE, WÜRDE DAS NICHTS DARAN ÄNDERN, WIE ICH MICH FÜHLE“

Erinnert ihr euch noch, wie sie mit ihren Augen immer direkt ins Innere der Menschen hineingeschaut hat? Und wie sie gelacht hat, als sie eine Tafel Schokolade auf den Heizkörper gelegt und sich das ganze Gesicht damit vollgeschmiert hat? Wie sie sich ihre Finger mit deinem Nagellack bis zu den Knöcheln hin angemalt hat? Es sind Geschichten, wie sie in vielen Familien erzählt werden, immer und immer wieder, bis keiner mehr weiß, was genau passiert ist und was die vielen Schichten des Erzählens später hinzugefügt haben. Muslima und Rahmat Hussiny aus Afghanistan haben diese Geschichten über ihre Tochter Madina im Kopf, wenn sie an sie denken…

➔ zum Text

PORTRÄT ÜBER JAMAL NASSER MAHMOUDI

EINER AUS 69

„Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag – das war von mir nicht so bestellt – sind 69 Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden. Das liegt weit über dem, was bisher üblich war.“ (…) Seehofer, offenbar auch in den angespanntesten Situationen stets für einen Scherz zu haben und mindestens genauso gut informiert, feiert seine Geburt jährlich am 4. Juli. Der Abschiebeflug, über den er sprach, ging aber bereits am Tag zuvor. Der 4. Juli, sein Geburtstag, ist für eine afghanischstämmige Familie im Iran jedenfalls sicher kein Tag zum Feiern mehr

➔ zum Text

PORTRÄT ÜBER SHAFIQA TEMORI

MEINE GENIALE FREUNDIN

Shafiqa bedeutet „die Mitfühlende“. „Sie war sehr respektvoll, aber sie war misstrauischer als ich“, sagt Mahbuba Maqsoodi. Und dann setzt die Münchner Künstlerin zu einer Geschichte über eine Freundschaft an, über die sie lange nicht gesprochen hat. Sie trägt die Erinnerung nicht auf der Zunge, aber sie trägt daran in ihrem Herzen...

➔ zum Text

PORTRÄT ÜBER AMAD AHMAD

DIE VERWECHSLUNG

Im Hochsommer eines heißen Jahres, am 6. Juli 2018, wird der 26-jährige Kurde Amad Ahmad aus Aleppo in Geldern festgenommen. Im goldenen Herbst ist er tot. Bei der Beerdigung trägt sein Vater, der im Internet von Amads Tod erfuhr, ein bemaltes Stück Stoff über dem Hemd: „Wer ist der Mörder unseres Sohns?“ steht darauf. Während der Trauer am offenen Grab wehen kurdische Fahnen...

➔ zum Text

Titelfoto: Kristina Milz

Weiter Beitrag

Zurück Beitrag

© 2024 Kristina Milz

Thema von Anders Norén